Die Tuberkulin-Euphorie bot ein ideales Umfeld, um das neue Institutsprojekt für Koch voranzutreiben. Am 29. November 1890 brachte der Abgeordnete Dr. med. Eduard Graf, ein Elberfelder Arzt, in der Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses eine Interpellation zur Förderung und weiteren Nutzbarmachung des Koch’schen Heilverfahrens ein. Kultusminister von Goßler nutzte die Steilvorlage, um den Parlamentariern das Projekt eines Instituts für Infektionskrankheiten zu unterbreiten. Noch in der gleichen Sitzung wurden die einmaligen Kosten für das Institutsgebäude – immerhin eine halbe Million Mark – ohne Umstände bewilligt, Das Bauvorhaben war im laufenden Etat nicht enthalten. Im Interesse größtmöglicher Beschleunigung des Projekts übernahm daher Althoff die Verantwortung dafür, dass zunächst außeretatmäßige staatliche Mittel eingesetzt wurden, und das Finanzministerium erklärte sich bereit, diesen Betrag als eine „außerordentliche unvermuthete Ausgabe“ zu behandeln.

Die Abstimmung über den laufenden Haushalt des Instituts war für den 9. Mai des kommenden Jahres vorgesehen. Während des knappen halben Jahres seit der Bewilligung der Mittel für das Gebäude hatte sich indes die Stimmung radikal gedreht. Das gerade noch gepriesene Tuberkulin hatte sich als ein Flop erwiesen. Seine Anwendung heilte die Tuberkulose keineswegs und war zudem in manchen Fällen auch noch mit ärgerlichen Komplikationen verbunden. Der Abgeordnete Graf ergriff am 5. Mai wiederum das Wort: „Als am 29. November die von Mitgliedern aller Parteien unseres Hauses unterstützte Interpellation meinerseits gestellt wurde, stand die Koch’sche Entdeckung im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, welches weit über Europa hinaus sich über alle Kulturvölker erstreckte. […] Vorüber ist jener Taumel, leer die Stätte, statt der Begeisterung Katzenjammer, und viele schämen sich, an jener gehobenen Stimmung theilgenommen zu haben“.

Hat Koch um seines Ruhmes willen Vabanque gespielt, und handelten seine Förderer im Kultusministerium zu leichtfertig, als sie ihn drängten, das Tuberkulin ohne hinreichende klinische Prüfung zu lancieren? Im Nachhinein ist diese Frage oft gestellt und erörtert worden. Nach dem Verfahren von Koch wurde das Tuberkulin gewonnen, indem man gezüchtete Reinkulturen des von ihm entdeckten Bakteriums eindampfte und filtrierte. So vorzugehen, war prinzipiell legitim – die bisherigen Erfolge der Bakteriologie legten es nahe. Pasteur hatte schon um 1880 durch eine zufällige Beobachtung einen Weg gefunden, die Virulenz von Bakterienkulturen so weit abzuschwächen, dass ihre Filtrate, wenn man sie Versuchstieren injizierte, bei diesen keine Erkrankung hervorriefen, wohl aber deren Immunisierung gegen die betreffende Krankheit bewirkten. Auch Koch konnte auf positive Ergebnisse bei Tierversuche verweisen. Damals war noch nicht absehbar, dass bei der Tuberkulose die Verhältnisse wesentlich komplizierter lagen als bei anderen gefürchteten Infektionskrankheiten wie der Cholera oder der Diphtherie. Selbst heute gibt es noch keine zugelassene Tuberkuloseschutzimpfung, die vollkommen komplikationsfrei wäre.

Es bleibt der Vorwurf, dass Koch zu hastig vorgegangen sein könnte. Wir können nicht ausschließen, dass auch äußere Motive wie die französisch-deutsche Konkurrenz mit im Spiel gewesen sein könnten. Vor allem aber dürfte das epidemische Auftreten der Tuberkulose in Deutschland, die ununterbrochen Menschen aller Altersgruppen dahinraffte, zu äußerster Eile getrieben haben. Allein im Jahre 1890 forderte die Tuberkulose in Preußen mehr als 84.000 Menschenleben. Medizin und Gesundheitspolitik standen damals in Berlin vor einer ähnlichen Entscheidung wie heute in Afrika angesichts der Ebola-Epidemie: entweder ein ungenügend erprobtes Mittel in der Hoffnung einzusetzen, dass es wirken möge, oder gar nichts zu tun und der tödlichen Seuche ihren Lauf zu lassen. Insofern ist uns Kochs und Althoffs Dilemma anno 1891 verständlicher, als es manchem früheren Kritiker gewesen sein mag.

Die öffentliche Meinung, von den Medien befeuert, neigte auch damals schon zu überschießenden Reaktionen. Ebenso ungerechtfertigt wie die maßlose Tuberkulin-Euphorie war die nicht minder maßlose Enttäuschung nach dem Erweis des Misserfolgs. Jedenfalls war es alles andere als sicher, dass der Etat für das Institut bei der parlamentarischen Abstimmung im Mai durchgehen würde: „Das Institut war in akuter Gefahr, Althoff in höchstem Maße gefordert“ (Wolfgang U. Eckart). Wenn das Ministerium auf der Woge der Volksmeinung argumentieren konnte, überließ es Althoff gern seinem Minister, die Lorbeeren einzuheimsen, und blieb selbst im Hintergrund. Nun aber, wo es gegen den Mainstream anzugehen galt, musste er aus der Deckung kommen und mit offenem Visier fechten. Er entschloss sich, sein Rederecht als Regierungskommissar zu nutzen und noch vor Virchow zu sprechen, von dem jeder wusste, dass er versuchen würde, dem ganzen Institutsprojekt den Garaus zu machen,

Althoffs Landtagsrede war ein Glanzstück allerersten Ranges. Mit ihr gelang das Unwahrscheinliche: Er nahm Virchow souverän den Wind aus den Segeln, erreichte die Zustimmung der Parlamentarier und rettete so das Institut, das im Juli des gleichen Jahres unter Kochs Leitung eröffnet werden konnte. Dazu bediente er sich, wie Eckart bemerkt, einer geschickten Doppelstrategie. Einerseits skizzierte er die Aufgabe des Instituts in einer strategischen Dimension und koppelte sie vom leidigen Tuberkulindisput ab; es gehe um nicht weniger als den Beitrag Preußens zur Eröffnung „einer neuen therapeutischen Ära“, an deren Schwelle er die Medizin weltweit sah. Andererseits spielte er flankierend die patriotische Karte aus, die im wilhelminischen Deutschland immer stach. Nachdem die deutsche Wissenschaft schon beim Nachweis der Erreger von Infektionskrankheiten eine international führende Position errungen habe, sollte sie nun auch bei deren Bekämpfung an der Spitze stehen. Die Parlamentarier sollten sie mit ihrem Votum „in den Stand setzen, das zu vollenden, was sie angefangen hat, da zu ernten, wo sie gesäet hat“. Das ließen sich die Abgeordneten nicht zweimal sagen.

Nach diesem Erfolg schrieb Koch an Althoff: „Sie haben mir damit einen Stein vom Herzen genommen, denn andernfalls wäre mir nichts übrig geblieben, als meinen Abschied zu nehmen. […] ich werde Ihnen niemals vergessen, daß Sie mit soviel Hingebung und Wärme meine Sache, selbst als sie von vielen als verloren angesehen wurde, geführt haben. Ich habe aber auch die felsenfeste Überzeugung, daß die Zukunft Ihnen recht geben und daß das Institut die Erwartungen, welche auf dasselbe gesetzt werden, vollauf erfüllen wird“. In der Tat stand dem Institut eine große Zukunft bevor. 1912, als Koch bereits verstorben war, erhielt es anlässlich des 30. Jahrestages der Entdeckung des Tuberkelbazillus seinen Namen.

Das Robert Koch-Institut (RKI) besteht noch heute. Als zentrale Einrichtung der Bundesregierung auf dem Gebiet der Krankheitsüberwachung und -prävention und Sitz der Ständigen Impfkommission gehört es zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Seine Homepage enthält einen kurzen Abriss der Institutsgeschichte. Darin taucht Althoffs Name ebenso wenig auf wie in der etwas ausführlicheren Darstellung, die über einen Link erreichbar ist. Dabei hätte es ohne dessen beherztes Eingreifen zur rechten Stunde gar kein RKI gegeben. Bernhard vom Brocke sagt treffend: „Der Bakteriologe Robert Koch wäre ohne Althoff niemals ordentlicher Professor in Berlin, niemals Direktor des Instituts für Infektionskrankheiten, niemals Mitglied der Akademie und Exzellenz geworden“. Doch die Erinnerung an die Akteure in der Arena der Forschung wird bereitwillig bewahrt – das Gedenken an den außergewöhnlichen Wissenschaftspolitiker im Hintergrund hingegen verblasst nur zu schnell.

Hubert Laitko

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