Selbst auf Bierdeckeln findet man die vier Eigenschaften, mit denen in Dinslaken Friedrich Althoffs hervorragende Persönlichkeit charakterisiert wird: visionär – vernetzt – eigensinnig – tolerant. Hinsichtlich der Toleranz beruft man sich hier in Dinslaken gern auf seine eigene Aussage, die Marie Althoff in dem Büchlein „Aus Friedrich Althoffs Jugendzeit“ festgehalten hat: „Es gab viele (Juden) in Dinslaken des Viehhandels wegen. Sie kamen oft auf unseren Hof und mein Vater kam gut mit ihnen aus. Nie habe ich ein intolerantes, noch viel weniger ein verächtliches Wort über Andersgläubige von den Eltern gehört“…In seinen letzten Lebensjahren äußerte er sich noch: „Meine Toleranz gegen Andersgläubige geht zum guten Teil auf meine unvergesslichen Kindheitserfahrungen in Dinslaken zurück. Dort lebten einträchtig Protestanten, Katholiken und Juden miteinander…“.
In seinem Berufsleben als preußischer Ministerialdirigent hatte es Althoff immer wieder mit jüdischen Wissenschaftlern zu tun, insbesondere mit Berufungen an die Hochschulen.
Hier bekamen es die jüdischen Wissenschaftler mit zwei hochschulpolitischen Akteuren zu tun. Auf der einen Seite waren das die Fakultäten, die mehr oder weniger von antisemitischen Strömungen gekennzeichnet waren. Da kam es schon mal vor, dass in einem Schreiben an Althoff ein jüdischer Professor als „rotbärtiger, schleichender, renommistischer Jude der unangenehmsten Art“ beschrieben wurde. Der Chemiker und Nobelpreisträger Richard Willstätter schrieb über die damaligen Universitäten:“ Viel tieferen Eindruck, entscheidenden, hat auf mich die Haltung der Fakultäten gemacht, nämlich die häufigen Fälle, daß die Berufung jüdischer Gelehrter bekämpft und verhindert wurde, und die Art und Weise, in der das geschah. Die Fakultäten ließen Ausnahmen zu, gewähren aber keine Gleichberechtigung“.
Auf der anderen Seite war das Kultusministerium, dessen Politik von Friedrich Althoff bestimmt wurde. Seine Berufungspolitik war geprägt vom Bemühen, die althergebrachte Diskriminierung von Minderheiten – Katholiken und Juden – zu vermeiden. . Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang der von dem Philosophen und Pädagogen Friedrich Paulsen, seinem Freund und Berater, überlieferte Satz: „Eins darf ich von mir sagen, ich habe in meinem Leben keine Hetze mitgemacht, keine Katholikenhetze und keine Judenhetze“.
Wenn von Friedrich Althoffs toleranter Haltung die Rede ist, wird zuallererst das Beispiel Paul Ehrlich genannt. Ehrlich, der große Immunologe und Serologe, der 1908 den Nobelpreis erhielt und durch seine zahlreichen Entdeckungen in aller Welt bekannt wurde, war sich immer klar drüber, dass er ohne Althoffs Förderung nie diese wissenschaftlichen Leistungen hätte erbringen können. Er schrieb Althoff 1907:
„Ich persönlich danke Ihnen meine ganze Karriere und die Möglichkeiten, meine Ideen nutzbringen auszugestalten. Als Assistent herumgeschubst, in die engsten Verhältnisse eingezwängt – von der Universität absolut ignoriert – kam ich mir ziemlich unnütz vor. Ich habe nie einen Ruf an die kleinste Stelle erhalten und galt als Mensch ohne Fach, d.h. vollkommen unverwertbar. Wenn Sie da nicht mit starker Hand und genialer Initiative für mich eingetreten wären, wenn Sie mir nicht mit rastlosem Eifer und gütiger Freundschaft die Arbeitsmöglichkeiten zurecht gemacht hätten, unter denen ich mich entwickeln konnte, wäre ich vollkommen brachgelegt gewesen“.
Ehrlich war 1890 außerordentlicher Professor geworden, hatte aber als „geknechteter“ Assistent Robert Kochs und als ungetaufter Jude keine Aussicht auf eine reguläre Hochschulkarriere. Althoff wurde auf ihn aufmerksam und erkannte das wissenschaftliche Potential, das in Ehrlich schlummerte. Er veranlasste 1896 die Gründung eines kleinen „Instituts für Serumforschung und Serumprüfung“, das aus dem Kochschen Institut ausgegliedert wurde und in zwei einstöckigen kleinen Häusern, dem ehemaligen Armenhaus, in Berlin-Steglitz untergebracht war. Hier konnte Ehrlich selbstständig arbeiten. Schon nach kurzer Zeit erwies sich dieses Institut aufgrund der Fortschritte der Forschungen zu klein. Wiederum stellte Friedrich Althoff seine weitreichenden Verbindungen in den Dienst der Sache und verhalf seinem Schützling Ehrlich zu weiterem Aufstieg. Er nutzte seine Verbindungen zum preußischen Finanzminister Johannes von Miquel und über ihn zum Oberbürgermeister von Frankfurt am Main, Adickes, und erreichte die Errichtung eines „Institutes für experimentelle Therapie“, das 1899 eröffnet wurde. In diesem Institut wurden wesentliche Forschungen auf dem Gebiet der Serologie durchgeführt, aber auch die Erforschung der Infektionskrankheiten und des Krebses richtungweisend vorangetrieben.
1905 wurde Ehrlich auf Althoffs Betreiben ordentlicher Honorarprofessor in Göttingen. Die Verleihung des Nobelpreises 1908 konnte Althoff nicht mehr erleben.
Es gibt aber auch andere Beispiele: Hugo Preuß hatte sich Anfang Februar 1889 für das Fach Staatsrecht an der juristischen Fakultät der Berliner Universität habilitiert. Als er 1896 ein Gesuch um Ernennung zum Extraordinarius an die Universität richtete, lehnte diese ab. Seine wissenschaftlichen Leistungen seien noch nicht ausreichend. Friedrich Althoff hatte, wie er es oft tat, einen jungen Mitarbeiter seines Ministeriums in Preuß´ Vorlesung geschickt, um über ihn zu berichten. In einem vertraulichen Schreiben meldete dieser, dass von sechs Hörern „vier dem Aussehen nach Juden waren“, im übrigen sei sein Vortrag nicht uninteressant gewesen, „indes bewegten sich seine Ausführungen wesentlich an der Oberfläche und ließen die wünschenswerte Tiefe vermissen“. Preuß bekam das Extraordinariat nicht. Sechs Jahre später, 1902, wurde ein neues Gesuch von der Fakultät befürwortet. Aber Althoff lehnte offiziell aus etatrechtlichen Gründen ab. Allerdings findet man in den Akten einen Brief des Hofmarschalls der Kaiserin, Graf von Mirbach an den Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität, in dem es hieß: „Ihre Majestät vertrauen, daß Eure Magnifizenz geeignete Mittel finden werden, um die Gefahren abzuwenden, daß solche jüdischen Spötter Lehrer unserer heranwachsenden Jugend sind“. Preuß hatte nämlich als Berliner Stadtverordneter in einer Rede 1899 gegen einen Eingriff des preußischen Kultusministeriums in die Rechte der kommunalen Schulverwaltung – es ging um die Einstellung jüdischer Lehrkräfte – protestiert und dabei einen Bibelvers persifliert: „Exzellenz hat es gegeben, Exzellenz hat es genommen, der Name seiner Exzellenz sei gelobt“. Das war zu viel. Die konservative Presse schäumte, die Angelegenheit wuchs sich zu einem „Fall Preuß“ aus, der noch 1902 seine Wirkungen zeigte. Hier wurden politische Gegnerschaften mit antisemitischen Tönen überdeckt. Im übrigen erhielt Preuß auf Druck der öffentlichen Meinung ein Disziplinarverfahren seitens der juristischen Fakultät. Dass dieses aufgrund einer Intervention Althoffs eingeleitet wurde, wie es Ernst Feder, sein Biograph,1926 behauptete, ist nicht belegt. Preuß bekam an keiner deutschen Universität eine Professur, jedoch einen Ruf an die privat errichtete Handelshochschule in Berlin. Dort wurde er kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs Rektor und 1918 der erste Innenminister der Weimarer Republik und Vater der Weimarer Verfassung.
Die beiden Beispiele – es gibt noch viele andere – zeigen: Althoffs persönliche Haltung war klar: er war zeitlebens von der Idee der Toleranz überzeugt. Noch im seinem letzten Lebensjahr war er, wie sein Biograph Arnold Sachse berichtet, zusammen mit Adolf von Harnack dabei, einen interkonfessionellen Toleranzbund zu konzipieren. „Sein Gerechtigkeitsgefühl führte ihn in religiösen und nationalen Fragen zu Milde gegen Andersdenkende und Andersstämmige. Jeder Hetze war er von Grund aus abhold“ (Friedrich Schmidt-Ott).
Oberster Leitfaden für Althoffs Handeln war die Entwicklung der Wissenschaft. „Wir fassen unsere Aufgabe vor allem so auf, daß wir zunächst der Wissenschaft im allgemeinen ohne Rücksicht auf staatliche Grenzen zu dienen haben…“ schrieb er anlässlich einer Berufung. So war es ihm wichtig, durch gezielte Berufungen die wissenschaftliche Produktivität zu steigern und die disziplinäre Schwerpunktbildung an den Fakultäten zu fördern, gleichgültig, ob die zu Berufenen Juden waren oder nicht.
Dieses wissenschaftspolitische Ziel – Preußens führende Stellung in Wissenschaft und Hochschulwesen zu stärken – war auch das des Kaisers, dessen loyaler Diener Althoff als Beamter war. Als preußischer Staatsbeamter vertrat er – auch aus Überzeugung – die Interessen des monarchischen Staates, ja des Monarchen und dessen Familie. Auch im Verhältnis zu den Professoren und bei den Berufungen, wie das Beispiel Hugo Preuß zeigte.
Dabei musste Althoff zwischen viele Fronten lavieren, zwischen Fakultäten und höfisch-dynastischen Wünschen, aber auch zwischen öffentlicher Meinung und dem Parlament. Das schränkte seinen Handlungsspielraum ein. Dazu kam die Knappheit der Staatsfinanzen, so dass er im Prinzip eine Dauerkrise der Universitäten zu verwalten hatte. Aus diesen engen Handlungsspielräumen erklärt sich auch Althoffs handeln. Er folgte bei Berufungen nicht nur sachlichen und fachlichen Kriterien, sondern durchaus auch taktischen Kriterien. Althoff versuchte möglichst Konflikte zu vermeiden und wurde deshalb auch ein „Virtuose der Opportunität“ genannt. „ So trug Althoff dem latenten Antisemitismus des wilhelminischen Deutschland Rechnung, ohne selbst Antisemit zu sein. Im Zweifelsfall konnte er sich auf den Standpunkt zurückziehen, bestimmte Personen als Wissenschaftler zu fördern unabhängig von ihrer Konfession, nicht aber ausdrücklich als Juden zu fördern; hätte er den Vorwurf des Philosemitismus auf sich gezogen, so hätte dies vermutlich das Ende seiner Wirkungsmöglichkeiten im wilhelminischen Milieu bedeutet“ (Hubert Laitko).
Friedrich Althoff war tolerant,aber seine Toleranz war einer seiner Zeit gemäße, ihr waren innere wie äußere Grenzen gesetzt.
Dieter Oelschlägel