Die preußische Metropole und – seit 1871 – deutsche Reichshauptstadt war Friedrich Althoffs Schicksalsort. Hier vollbrachte er sein eigentliches Lebenswerk, das ihm für immer einen angesehenen Platz in der Geschichte der Wissenschaft gesichert hat. Doch es sah keineswegs von vornherein so aus, als seien der Mann vom Niederrhein und die Stadt Berlin füreinander bestimmt. Sein erster Versuch, als Student der Rechte an den Ufern der Spree Anker zu werfen, scheiterte kläglich; nach dem Verweis von der Universität musste er froh darüber sein, in Bonn seine Studien vollenden zu dürfen. Der zweite Arbeitsaufenthalt als Referendar in Berlin war auch nur ein vorübergehender. Zwar waren ihm die praktischen Erfahrungen, die er am angesehenen Berliner Kammergericht erwarb, durchaus von Nutzen – doch für die Stadt und ihre Lebensart konnte er sich auch jetzt nicht erwärmen.
Erst beim dritten Anlauf kam er nach Berlin, um für immer zu bleiben. Nun waren es die Pflicht und die Ehre, die ihn riefen. Er war auch längst kein lerneifriger Nobody mehr, sondern ein ausgewiesener Fachmann der Wissenschaftsverwaltung, um den man sich von höchster Stelle bemühte. Der Geheime Oberregierungsrat Heinrich Robert Goeppert, der bis dahin die Position des Universitätsreferenten im Preußischen Kultusministerium innehatte, war 1882 verstorben, und die Offerte, dessen Nachfolge anzutreten, erging an Althoff in Straßburg.
Die Entscheidung, dieses Angebot anzunehmen, dürfte ihm nicht leicht gefallen sein, und er hat sie sich auch nicht leicht gemacht. Nach reichlich zehn Jahren im Zentrum des Elsass war er dort gut etabliert – die „Reichsuniversität“, die das Gepräge seines gestaltenden Einsatzes trug, war ihm ans Herz gewachsen. Seine Professur füllte er mit Eifer, aber auch schon mit aus Erfahrung erwachsener Routine aus, die ihm ein behagliches Dasein ermöglichte. Arnold Sachse erwähnt, wie viel Lebensqualität für ihn auf dem Spiel stand, wenn er „aus den schlichten Verhältnissen der Universität, von feuchtfröhlichen Gelagen, von dem Freundeskreise, dem er sich angeschlossen hatte, von der Nachbarschaft des geliebten Schwarzwaldes und dem Landleben in den Ferien Abschied nahm“. In den ausgedehnten Semesterpausen hatte er sich nicht nur mit juristischer Fachliteratur, sondern auch „mit Hühner- und Entenzucht und mit Baumpflege“ beschäftigt.
Er war erfahren genug, um im Voraus zu wissen, dass er für die einfachen Freuden, die das Leben im Gleichgewicht halten, in Berlin kein Äquivalent mehr finden würde. Was ihn erwartete, war kein bloßer Wechsel des Arbeitsortes und des Aufgabenkreises, sondern eine einschneidende Lebenswende. Auf der anderen Seite waren ihm die Straßburger Verhältnisse schon länger zu eng geworden, in ihnen fühlte er sich zunehmend unterfordert. Mit 43 Jahren – er konnte nicht ahnen, dass er seine Lebensmitte schon deutlich überschritten hatte – sah er die einzigartige Chance, seine Ideen von einem zeitgemäßen Profil des Hochschulwesens in größerem Maßstab umzusetzen.
Nach wie vor waren die Universitäten das Herzstück des Wissenschaftssystems, nachhaltige Veränderungen des Ganzen konnten am besten von ihnen aus ins Werk gesetzt werden. Preußen wiederum beherbergte den Löwenanteil der deutschen Universitäten, es hatte damit das nötige Gewicht, um auf das gesamte Reich auszustrahlen. Die Lockung, die von dieser Konstellation auf Althoffs Tatkraft ausging, war unwiderstehlich. Bevor er aber endgültig zusagte, suchte er den Rat von Persönlichkeiten, denen er vertraute. Zwei Antworten sind erhalten geblieben – sowohl der Berliner Rechtsgelehrte Rudolf von Gneist, bei dem er einst promovieren wollte, als auch der etwa gleichaltrige Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker Gustav Schmoller rieten ihm zu.
Schmoller war Althoffs Kollege in Straßburg, und er war mit einem 1882 angenommenen Ruf auf einen Berliner Lehrstuhl diesem geographisch vorausgegangen, während sich die beruflichen Wege schieden. Das Urteil, er in einem Brief an Althoff von 21. 9. abgab, hatte geradezu visionäres Format: „Das neue Amt, welches Ihnen angeboten wird, zählt zu den Stellungen, welche imstande sind, historische Bedeutung zu gewinnen, und in solchem Falle darf man nicht ablehnen, wenn man so sehr die Kraft besitzt, diesem Amte etwas zu geben, wie es bei Ihnen der Fall ist“. Über seinen Wechsel nach Berlin verhandelte Althoff mit dem Minister Gustav von Goßler am Bodensee und erwirkte nach der Auskunft Sachses von diesem die Zusage, „daß ihm der Rücktritt in eine seinen jetzigen Verhältnissen entsprechende Stellung an der Universität Bonn oder einer ihm sonst zusagenden preußischen Universität vorbehalten bleibe“. Von dieser Rückzugsmöglichkeit machte Althoff niemals ernsthaft Gebrauch, aber er nutzte sie in heiklen Situationen bisweilen als Druckmittel gegenüber seinem vorgesetzten Minister.
Im Oktober 1882 brach er die Zelte in Straßburg ab. Am 10. 10. wurde er zum Geheimen Regierungs- und Vortragenden Rat ernannt, und elf Tage später trat er sein neues Amt in Berlin an. Sein früherer Mentor Franz Frh. von Roggenbach gratulierte ihm „zu einem der einflußreichsten Posten im ganzen deutschen Reiche“, doch er fügte warnend hinzu, „daß zehnfache Herkuleskräfte dazu gehören, gerade in Preußen einigermaßen bahnbrechend vorzugehen“. Wie recht der erfahrene Politiker damit hatte, das konnte Althoff ab sofort erfahren, ein volles Vierteljahrhundert, Tag um Tag.
Hubert Laitko